In dem Alter noch???

Man liest sie ja so gerne, die Geschichten aus der Tierarztpraxis...und weil ich wieder mal an einem Sonntagmittag in der Praxis sitze und vergeblich auf einen angekündigten „Notfall“ warte, nutze ich die Zeit, um Ihnen von einem Patienten zu berichten, der in meiner Praxis vorgestellt wurde.

Und weil auch wir Tierärzte der Schweigepflicht unterliegen, nennen wir den Patienten einmal „Sindy“. Sindy, ein 13 Jahre altes Terriermädchen, betrat bereits mit einem unverkennbaren Eitergeruch den Behandlungsraum. Sindys Frauchen, eine rüstige ältere Dame, berichtete mir, dass Sindy, abgesehen von ihrem altersschwachen Herz, ganz munter ist, in letzter Zeit aber ihr Futter so komisch kaut und ab und an mal aus dem Mund blutet. Und außerdem riecht der Hund so streng aus dem Mund, was ihr besonders in der Nacht auffällt, da sie sich mit ihr ein Kopfkissen teilt. Sie wüsste ja, dass Sindy schlechte Zähne hat, aber eine Narkose in dem Alter sei ja viel zu gefährlich und außerdem habe ihr ein anderer Tierarzt ebenfalls davon abgeraten, weil Sindy ja auch schon Medikamente für ihr Herz bekomme und sie dann eventuell eine Narkose nicht mehr überleben würde.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mir Sindy noch nicht einmal genauer angeschaut, jedoch gaben mir der Vorbericht und der Geruch des Hundes bereits einen Hinweis, welch mühevollen Minuten mir nun bevor standen.

Sindys Zähne waren, wie es zu erwarten war, in einem gruseligen Zustand. Kaum eine Zahntasche, aus der nicht der Eiter kam, einige Zähne locker, das Zahnfleisch teilweise blutig. Und dazu ein Frauchen, dass davon überzeugt ist, eine Zahnsanierung bedeutet für ihren Hund den sichere Tod.

Ich möchte diese Überzeugung auf gar keinen Fall ins Lächerliche ziehen. Ganz im Gegenteil. Die Besitzerin hatte Angst um das Leben ihres Hundes. Was kann es für einen Tierbesitzer Schlimmeres geben? Dazu noch die Aussage eines anderen Kollegen, der sie mit dem Problem wieder nach Hause schickte, weil er das Risiko als zu hoch einstufte. So, und nun ist es meine Aufgabe, zum Wohl des Hundes, Sindys Frauen davon zu überzeugen, dass wir diesen Zustand auf gar keinen Fall so lassen können und dass eine Zahnsanierung auch nicht zum sicheren Tod des Patienten führen wird. Oder würden Sie eine herzkranke 80jährige mit einem eiternden Gebiss durch die Weltgeschichte laufen lassen?

Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, in solchen Situationen Fakten zu schaffen und versuche, die Besitzer von ihrer emotionalen Ebene herunter zu bekommen. Fakt ist, dass solch ein Zustand so nicht bleiben kann, da ein Entzündungs- bzw. Eiterherd im Körper zu ernsthaften systemischen Schäden im Organismus führen kann. Und je älter das Tier, desto schwacher ist das Immunsystem, um sich vor solchen Angriffen zu schützen.

Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass Sindy schlichtweg Zahnschmerzen hat, die sie jeden Tag und jede Nacht begleiten.

Und nun zum Thema „Narkose“. Für eine Zahnsanierung, wie sie bei Sindy anstehen würde, wähle ich grundsätzlich eine schonende Kurzsedation, die wir nach dem Eingriff sofort wieder aufheben können. Dies schont den Kreislauf und die Tiere befinden sich nur so lange in einem Dämmerschlaf, wie wir es zur Reinigung der Zähne benötigen. Sollten wir während des Eingriffes merken, dass das Tier Schmerzen hat, bekommt es eine Lokalanästhesie direkt an der schmerzhaften Stelle. Solche Eingriffe machen wir grundsätzlich zu Zweit. Einer kümmert sich um die Zähne, der andere überwacht den Patienten und dessen Sedation. Sollten Unregelmäßigkeiten in der Sedation auffallen, bekommt der Patient sofort ein Gegenmittel gespritzt, so dass er sofort wieder wach ist.

Natürlich gibt es IMMER ein Restrisiko und natürlich ist dieses bei älteren Patienten, die zusätzlich noch an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung leiden, auch höher einzustufen als bei einem jungen, gesunden Tier. Aber das ist noch lange kein Grund, des Tier bis ans Ende seiner Tage mit Schmerzen herumlaufen zu lassen. Auch alten Patienten haben ein Recht auf eine Therapie!


Sindy wurde übrigens erfolgreich zahnsaniert und ist seit dem „irgendwie viel fröhlicher“...


Ach ja, der sonntägliche „Notfall“ ist immer noch nicht da, ich geh dann mal zu meiner Familie....